Ermittlungen in virtuellen Lebenswelten

Vierte Rechtswissenschaftliche Tagung an der Polizeiakademie Niedersachsen – ein voller Erfolg

 

Kriminalität organisiert sich zunehmend – und in manchen Deliktsbereichen fast ausschließlich –  über das und im Internet. Diese schlichte Erkenntnis stellt die Polizei der Gegenwart vor technische, taktische aber auch – und insbesondere – vor rechtliche Herausforderungen. Vorratsdatenspeicherung, „Facebook-Fahndung“, DSL-Überwachung, Ermittlungen in sozialen Netzwerken sind hierbei einige der Themen, die im Fokus der Rechtswissenschaft, aber auch der Praxis stehen. Mit dem Ziel, den Dialog zwischen Wissenschaft und Praxis zu den vielen offenen Fragen im Bereich “Ermittlungen in virtuellen Lebenswelten” zu fördern, fand am 16. Juni die inzwischen vierte Rechtswissenschaftliche Tagung in der Aula der Polizeiakademie in Nienburg vor einem Publikum von rund 180 Personen aus allen Bereichen der Polizei Niedersachsens, des Bundes und anderer Länder sowie Gästen aus dem Innen- sowie Justizministerium, der Staatsanwaltschaft und der Bundes- und Landespolitik statt. Die Veranstaltung wurde von der Studiengebietsleiterin Rechtswissenschaften, Frau POR‘in Christina Benkert und Herrn Prof. a.d.PA Dr. Jan Roggenkamp organisiert. Unterstützung leistete ein Team von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern beider Abteilungen der Polizeiakademie.

 

In seinen einführenden Worten erläuterte der Direktor der Polizeiakademie Dieter Buskohl die Ausgangslage. Einerseits bestehe die Notwendigkeit den virtuellen Raum nicht zu einem Ort werden zu lassen, in welchem Drogen- und Menschenhandel blühen, in welchem terroristische und kriminelle Taten unbehelligt organisiert oder sogar begangen werden könnten. Gleichzeitig müssten aber auch die Grundrechte im virtuellen Raum be- und geachtet werden. Das bedeute, dass sich auch die Ermittlungstätigkeit an die gesetzlichen und verfassungsrechtlich vorgegebenen Grenzen halten müsse. Zwischen dem, was technisch möglich beziehungsweise kriminalistisch sinnvoll und dem, was rechtlich erlaubt ist, existiere ein Spannungsfeld. Die Aufgabe der Rechtswissenschaft sei es, so DirPA Buskohl, hier nicht nur den rechtlichen Status quo darzustellen und zu erläutern, sondern auch Missstände aufzuzeigen und konstruktive Vorschläge zu gesetzgeberischen Lösungen sowie zum Umgang in der Praxis zu machen.

 

Im Anschluss unterstrich Herr KOK Christian Pursche vom LKA (Dez. 38) die praktische Relevanz der Thematik. Nach einer kurzen Einführung in die aktuellen Phänomene krimineller Aktivitäten im und mit Hilfe des Internets gab er dem Publikum einen Einblick in die verschiedenen Aktivitäten des LKA sowohl im Ermittlungs- als auch Präventionsbereich. Als Problem wurde insbesondere die dem Internet immanente Anonymität aufgezeigt und die vielfältigen technischen Möglichkeiten (z.B. durch Nutzung des sog. Tor-Netzwerks) unerkannt kriminelle Handlungen vorzunehmen und zu organisieren. Die erfolgreichste Bekämpfungsform der Internetkriminalität sei aber, so Pursche, die Aufklärung und Prävention. Der Mensch müsse das Netz und die Gefahren verstehen lernen.

 

Der erste rechtswissenschaftliche Vortrag im engeren Sinne wurde von Frau Prof. Dr. Susanne Beck, LL.M. (LSE) Inhaberin des Lehrstuhls für Strafrecht, Strafprozessrecht, Strafrechtsvergleichung und Rechtsphilosophie an der Leibniz-Universität Hannover gehalten. Die international renommierte Referentin beleuchtete die praktisch hochrelevante Thematik der Ermittlungen in sozialen Netzwerken. Sie zeigte auf, dass die bestehenden Regelungen der StPO die Wirklichkeit der sozialen Netzwerke nicht umfassend widerspiegeln. Eine Beobachtung im Internet sei nicht dasselbe wie eine Observation, ein Fake-Account bei Facebook sei nicht mit der Legende eines Verdeckten Ermittlers in der realen Welt vergleichbar. Insbesondere die zeitlichen Kriterien dieser herkömmlichen Ermittlungsmethoden seien nicht auf soziale Netzwerke, bei denen innerhalb weniger Minuten eine Unmenge an Informationen erlangt werden könne, übertragbar. Insgesamt scheine deshalb, so Beck, eine gesetzliche Neuregelung ratsam, die die Besonderheit sozialer Netzwerke berücksichtigt.

 

Einen anderen Aspekt der polizeilichen “Nutzung” sozialer Netzwerke, namentlich die Öffentlichkeitsfahndung mit Hilfe des Internets, beleuchtete Staatsanwalt Dr. Antonio Esposito, derzeit abgeordnet an das Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz sowie Lehrbeauftragter an der Polizeiakademie Niedersachsen. Er zeigte anschaulich auf, wie die seit dem 1. März 2016 in Niedersachsen und zahlreichen anderen Bundesländern in Kraft getretene Anlage B zu den Richtlinien für das Strafverfahren und das Bußgeldverfahren (RiStBV) versucht, die datenschutzrechtlichen Probleme im Zusammenhang mit der Öffentlichkeitsfahndung in den Griff zu bekommen. Mit Beispielen aus der Praxis wurden die Vor- und Nachteile von Öffentlichkeitsfahndungen insbesondere über so genannte Facebook-Fanseiten herausgearbeitet. Esposito verdeutlichte, dass die Ermittlungsbehörden sich noch stärker mit der Frage befassen müssen, welche Maßnahmen erforderlich sind, um z.B. eine dauerhafte Speicherung von Fahndungsbildern u.ä. durch Suchmaschinen zu verhindern.

 

Nach der Mittagspause betrachte der ausgewiesene Polizeirechtler RD Dr. Frank Braun von der Fachhochschule für Öffentliche Verwaltung NRW (Abt. Polizei) die  Überwachung von Datenströmen im Rahmen von TKÜ-Maßnahmen. Aus Brauns Sicht ist vor allem die Überwachung IP-basierter Datenströme bedenklich. Hierbei könne auf das gesamte Internetnutzungsverhalten eines Beschuldigten zugegriffen werden (z. B. Up- und Downloads, Aufruf von Internetseiten, Internettelefonie, E-Mail-Verkehr, Nutzung sozialer Netzwerke und Suchmaschinen usw.). Derartige Maßnahmen seien mit einer unzulässigen Online-Durchsuchung gleichzusetzen und – entgegen derzeitiger Praxis – auf Grundlage der Strafprozessordnung, also §§ 100a, b StPO, nicht zu rechtfertigen.

 

Schließlich erläuterte der Internetrechtsexperte, Anwalt und Honorarprofessor an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin, Herr Prof. Niko Härting die verfassungsrechtlichen Probleme der Neuregelung der Vorratsdatenspeicherung. Härting, der als Prozessbevollmächtigter eine der Verfassungsbeschwerden gegen eben jene Regelung betreut, zeigte insbesondere die legislativen Schwächen der §§ 113b, c TKG und § 100g Abs. 2 StPO (jeweils neue Fassung) auf. Er legte dabei Wert darauf, keine rechtspolitische Einschätzung abzugeben, sondern konstatierte nüchtern: „Man mag die Vorratsdatenspeicherung für sinnvoll und notwendig halten. Die Bundesregierung hat sich jedoch leider nicht die Mühe gemacht, dies in der verfassungsrechtlich gebotenen Weise zu begründen.“

 

Das Thema “Vorratsdatenspeicherung 2.0” war dann auch eines der am kontroversesten diskutierten Themen der knapp einstündigen lebhaften Podiumsdiskussion (Moderation: Prof. a. d. PA Dr. Roggenkamp) der Referentin und Referenten mit dem Publikum. Der eingangs erwähnte Konflikt zwischen dem technisch machbaren, dem aus Ermittlersicht Wünschenswertem und verfassungsrechtlich Zulässigem zeigte sich hier am stärksten. Eine Lösung der vielfältigen Problemstellungen und eine Behebung der vielen Rechtsunsicherheiten, das wurde am Ende der Tagung einmal mehr klar, stellt Praxis als auch Wissenschaft vor große Herausforderungen. Der Diskurs, so auch das Eingangsstatement des Direktors der Polizeiakademie Niedersachsen, ist hierbei ein wesentliches Element. Zu diesem konnte die diesjährige rechtswissenschaftliche Tagung – und das ist ein toller Erfolg – wertvolle Impulse geben.

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