Vom 26.02. – 04.03.2023 besuchten der Shoah-Zeitzeuge und Träger des Bundesverdienstkreuzes am Bande sowie Preisträger des österreichischen Simon-Wiesenthal-Preises 2023 Tswi Herschel und seine Tochter Natali Herschel die Polizeiakademie Niedersachsen. In zwei öffentlichkeitswirksamen Veranstaltungen in der Wandelhalle von Bad Nenndorf sowie im Oldenburger Landtag stellte er seine Lebensgeschichte als „verstecktes Kind“ dar. Natali Herschel beleuchtete die Auswirkungen der Shoah auf die nachfolgenden Generationen. Höhepunkt dieser beiden Veranstaltungen waren die folgenden Podiumsgespräche, in denen sich Tswi und Natali Herschel mit Dr. Johannes Spohr, einem Enkel des zeitweilig in der Ukraine stationierten Ordonanzoffiziers Rudolph Spohr über die jeweiligen Erfahrungen als Betroffene, als Nachfahren der Opfer sowie der Täter austauschten. Die Tabuisierung der Familiengeschichte, der Umgang mit der Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland –  aber auch in jüngerer Zeit, persönliches Schuldempfinden, der Umgang mit der jeweils eigenen Biographie und den eigenen Erfahrungen wurden vor geladenen Gästen von Polizei, Politik, Kirche und Gesellschaft intensiv diskutiert.

Darüber hinaus gaben Tswi und Natali Herschel in zwei gesonderten Veranstaltungen in der Aula der Polizeiakademie Niedersachsen am Studienort Nienburg ihre Lebensgeschichte vor je 200 Studierenden aller Studienabschnitte und Studienorte sowie deren Studiengruppenleiter*innen und Schülerinnen und Schüler, die von der Stadt Nienburg Ende Januar als Botschafterinnen und Botschafter der Erinnerung ernannt wurden, ihre Lebensgeschichte wieder und leiteten daraus Lehren für die Gegenwart und die Zukunft ab. Im Anschluss an die Vorträge setzten sich die Studierenden in begleiteten Workshops mit dem Gehörten, mit der Rolle der Polizei und der eigenen Verantwortung auseinander. Anschließend diskutierten die Studierenden die Workshop-Ergebnisse mit Tswi und Natali Herschel.

Unter dem Motto „We remember – Nie wieder“ verschreiben sich die Herschels seit mehr als 20 Jahren der Aufgabe, Schülern, Lehrern, Studierenden, Institutionen wie der Polizei und Verantwortungsträger*innen staatlicher Organisationen anhand der eigenen Biografie und der Erfahrungen die Mechanismen totalitärer Unrechtsregime und die damit verbundenen unzähligen individuellen Folgen nahe zu bringen, Brücken zu bauen und engagiert dafür einzutreten, dass derartig katastrohpale Fehlentwicklungen nie wieder passieren.

Der heute 80-Jährige Tswi Herschel wurde 1942 in Zwolle, Niederlande, als Sohn des jüdischen Ehepaares Nico und Ammy Herschel geboren und im Alter von nur vier Monaten an die christliche Familie de Jongh übergeben. Nur so konnte sein noch junges Leben vor dem Wahn der Nationalsozialisten und der Judenverfolgung gerettet werden. Seine Eltern Nico und Ammy wurden wenig später ins Vernichtungslager Sobibor deportiert und dort ermordet. Die neue Familie nahm ihn wie einen eigenen Sohn auf. Doch dieses Glück währte nur kurz. Gleich nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs fand ihn seine Großmutter, entriss ihn dieser Pflegefamilie und untersagte ihm jeglichen Kontakt. Erst mit acht Jahren fand Herschel das Tagebuch seines Vaters und erfuhr so von seiner eigenen Familiengeschichte.

Tswi Herschel wohnt heute mit seiner Frau, seiner Tochter Natali und seinen zwei Enkelkindern in der Nähe von Tel Aviv, Israel. Für sein Engagement verlieh im Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier 2019 das Bundesverdienstkreuz am Bande. 2023 wurde er vom österreichischen Nationalrat mit dem Simon-Wiesenthal-Preis ausgezeichnet.

Bewegender Abschluss der Besuchswoche war ein Besuch der Gedenkstätte Bergen-Belsen, an dem auf ausdrücklichen Wunsch der Herschels auch 20 Studierende teilnehmen durften.  In einem weiteren Artikel veröffentlichen wir die Rede, die Natali Herschel vor dem zentralen Mahnmal an der Gedenkstätte Bergen-Belsen hielt.

Der Verein der Freunde der Polizeiakademie Niedersachsen e.V. unterstützte die Besuchswoche der Herschels, insbesondere die studentischen Veranstaltungen an der Polizeiakademie Niedersachsen (mq).

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