Vorratsdatenspeicherung 2.0

Prof. a. d. PA Dr. Jan Roggenkamp

 

Sie ist wieder da: Die Vorratsdatenspeicherung. Am 18. Dezember 2015 ist das “Gesetz zur Einführung einer Speicherpflicht und einer Höchstspeicherfrist für Verkehrsdaten” in Kraft getreten. Spätestens ab dem 1. Juli 2017 müssen die Telekommunikationsdiensteanbieter Verbindungsdaten für eine bestimmte Zeit auf Vorrat speichern und – bei Vorliegen der entsprechenden Voraussetzungen – an Strafverfolgungs- und Gefahrenabwehrbehörden herausgeben. Damit hat eine lange rechtspolitische Auseinandersetzung (vorerst) ihren Abschluss gefunden. Anlass, einige typische Fragen zu beantworten.

 

Was ist die Vorratsdatenspeicherung eigentlich?

 

Unter Vorratsdatenspeicherung versteht man die Speicherung so genannter Verkehrsdaten. Das sind nach der Legaldefinition in § 3 Nr. 30 Telekommunikationsgesetz („TKG“) “Daten, die bei der Erbringung eines Telekommunikationsdienstes erhoben, verarbeitet oder genutzt werden“. Gespeichert werden sollen also Daten, die im Rahmen der Nutzung von Telefon, SMS und Internet anfallen. Darunter fällt zum Beispiel die Information, von welchem Mobilfunkanschluss zu welchem Zeitpunkt eine SMS an einen anderen Mobilfunkanschluss gesendet wurde. Ebenso soll erfasst werden, wie lange ein bestimmtes Telefonat zwischen zwei Anschlüssen gedauert hat. Zudem werden Standortdaten gespeichert, also (soweit bekannt) der Aufenthaltsort eines Mobilfunknutzers zum Zeitpunkt eines Anrufs. Internetzugangsdiensteanbieter (z.B. Deutsche Telekom) müssen zudem Informationen zu den Ihren Kunden zugewiesenen IP-Adressen speichern. Nicht gespeichert werden die Kommunikationsinhalte, sowie (nach der Neufassung) Daten über aufgerufene Internetseiten und Daten von E-Maildiensten.

 

All diese Daten werden “auf Vorrat” gespeichert. Das bedeutet zweierlei. Erstens werden die Informationen durch die Diensteanbieter für eine gesetzlich festgelegte Dauer gespeichert. Standortdaten für vier Wochen. Sonstige Daten für zehn Wochen. Danach müssen sie unwiederbringlich gelöscht werden. Zweitens – und das ist der Stein des verfassungsrechtlichen Anstoßes – bedarf es keiner weiteren Voraussetzungen für die Speicherung. Im Gegenteil: Grundsätzlich müssen die Telekommunikationsdiensteanbieter alle in § 113 b TKG genannten Daten von all ihren Kunden speichern. Ohne dass diese in irgendeiner Form dazu Anlass gegeben haben müssen.

 

Ziel dieser so genannten “anlasslosen Verkehrsdatenspeicherung” ist es, im Bedarfsfall eine retrograde (in die Vergangenheit gerichtete) Auswertung der Kommunikation vornehmen zu können. Auf diese Weise, so die Hoffnung, ist es möglich Täter zu identifizieren, Strukturen (Hintermänner, Komplizen, etc.) aufzudecken und so zukünftige Taten zu verhindern. Wird zum Beispiel nach einem Selbstmordattentat beim Täter (oder im Tatumfeld) ein Mobiltelefon gefunden, kann versucht werden, mit Hilfe der Vorratsdaten herauszufinden, mit wem der Täter kommuniziert hat und wo er sich aufgehalten hat. Ohne Vorratsdaten ist das in der Regel nicht möglich, da die Telekommunikationsdiensteanbieter Verkehrsdaten sofort löschen müssen, wenn sie nicht mehr (z.B. für Abrechnungszwecke) erforderlich sind. Gleiches gilt für Informationen über den hinter einer so genannten IP-Adresse stehenden Nutzer. Wird z.B. ein Server beschlagnahmt, über den kinderpornographische Inhalte “getauscht” wurden, ist einziger Ansatzpunkt für Ermittlungen häufig die Internetprotokolladresse der Nutzer, die regelmäßig “geloggt” wird. Die bereits seit einiger Zeit rechtlich mögliche Auskunft nach § 100j Abs. 2 Strafprozessordnung (“StPO”) ging regelmäßig ins Leere, da die gewünschten Informationen bereits gelöscht waren.

 

Wo ist das verfassungsrechtliche Problem?

 

Das Instrument der Vorratsdatenspeicherung (kurz auch „VDS“ genannt) ist verfassungsrechtlich hoch umstritten. Das liegt – verkürzt gesagt – zunächst an der Sensibilität und Menge der gespeicherten Daten. Mit Hilfe der Vorratsdaten kann ein sehr genaues Persönlichkeits- und Bewegungsprofil einzelner Bürger erstellt werden. Die Missbrauchsmöglichkeiten (auch durch Private) liegen auf der Hand. Zudem sind die Betroffenen zu einem ganz großen Teil “unbescholtene Bürger”. Es handelt sich, so das Bundesverfassungsgericht (“BVerfG” – Urteil vom 2. März 2010 – 1 BvR 256/08 u.a.) bei der VDS um einen besonders schweren Grundrechtseingriff “mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung bisher nicht kennt“. Das, so das BVerfG, führe aber noch nicht dazu, dass das Instrument der Vorratsdatenspeicherung “schlechthin verfassungswidrig” sei. In der Vorratsdatenspeicherungsentscheidung aus dem Jahr 2010 konstatierte es, dass ein derart schwerwiegender Eingriff aber hohen gesetzlichen Anforderungen unterliegt. Es gab dem Gesetzgeber konkrete “Segelanweisungen” für die Neufassung der VDS mit an die Hand.

 

Etwa vier Jahre später befand der Europäische Gerichtshof („EuGH“), dass die den deutschen Regelungen zu Grunde liegende Richtlinie mit Europäischem Verfassungsrecht nicht vereinbar und daher nichtig ist. Die VDS stelle “einen Eingriff von großem Ausmaß und besonderer Schwere in die Grundrechte auf Achtung des Privatlebens und auf den Schutz personenbezogener Daten, der sich nicht auf das absolut Notwendige beschränkt“ dar. Aber auch nach dem EuGH ist eine Vorratsdatenspeicherung nicht vollständig ausgeschlossen worden. Wie aber eine “auf das absolut Notwendige” beschränkte VDS aussehen muss, ließen die Richter in Luxemburg offen.

 

Ist die VDS heutzutage überhaupt noch ein geeignetes Mittel?

 

Das ist in der Tat eine der Hauptargumentationen gegen die Vorratsdatenspeicherung. Ein Eingriff in Grundrechte ist bekanntermaßen nur dann verfassungsrechtlich zu rechtfertigen, wenn er zur Erreichung des gesetzgeberischen Ziels auch geeignet ist. Das kann mit Blick auf das gewandelte Kommunikationsverhalten durchaus bezweifelt werden. Es ist sehr einfach, sich der Vorratsdatenspeicherung zu entziehen. So werden beispielsweise Skype- oder WhatsApp-Telefonate und -Chats nicht erfasst, da ausländische Anbieter nicht den deutschen Regelungen des TKG unterliegen. Auch durch Nutzung von ausländischen (oder unter falschem Namen registrierten) Prepaidkarten fällt man aus dem Raster. Möchte man keine Spuren bei der Internetnutzung hinterlassen, nutzt man einfach spezielle (kostenfrei im Internet verfügbare) Programme wie den TOR-Browser (abrufbar über https://www.torproject.org) oder WLAN-Hotspots ohne Registrierungspflicht. Das BVerfG hat diese Argumentation aber bereits 2010 verworfen. Im Einklang mit seiner bisherigen Rechtsprechung hat es die Auffassung vertreten, dass all diese Verschleierungsmöglichkeiten “der Geeignetheit einer solchen Regelung nicht entgegenhalten werden [können]. Diese erfordert nicht, dass das Regelungsziel in jedem Einzelfall tatsächlich erreicht wird, sondern verlangt lediglich, dass die Zweckerreichung gefördert wird.

 

Gibt es keine anderen, milderen Mittel? Ist die VDS wirklich erforderlich?

 

Die Antwort auf diese Frage lässt sich – ebenfalls im Einklang mit der VDS-Entscheidung des BVerfG – bejahen. Insbesondere sei das sog. Quick-Freezing-Verfahren, bei dem an die Stelle der anlasslos-generellen Speicherung der Telekommunikationsdaten eine Speicherung nur im Einzelfall und erst zu dem Zeitpunkt angeordnet werde, zu dem dazu etwa wegen eines bestimmten Tatverdachts konkreter Anlass besteht, kein taugliches Substitut. “Ein solches Verfahren, das Daten aus der Zeit vor der Anordnung ihrer Speicherung nur erfassen kann, soweit sie noch vorhanden sind, ist nicht ebenso wirksam wie eine kontinuierliche Speicherung, die das Vorhandensein eines vollständigen Datenbestandes für die letzten sechs Monate gewährleistet.

 

Wie sieht denn nun die Neuregelung aus?

 

Der Gesetzgeber hat sich bei der Neuregelung der VDS erkennbar bemüht, den Anforderungen des BVerfG gerecht zu werden. Dieses hatte anspruchsvolle und klare Regelungen gefordert, die insbesondere Datenschutz, Datensicherheit und Transparenz sowie klar geregelte Zugriffsrechte enthalten. Die im Gegensatz zur Altregelung stark verkürzte Speicherpflicht (früher sechs Monate, jetzt vier bzw. zehn Wochen) verwundert, da der Zeitraum der Speicherung vom BVerfG nicht moniert wurde. Es kann nur vermutet werden, dass es sich um den Versuch handelt, die vom EuGH geforderte Beschränkung “auf das absolut Notwendige” einzuhalten.

 

Die Abfragebefugnis zu Zwecken der Strafverfolgung folgt aus § 100g Abs. 2 StPO. Eine präventive Befugnis ist ebenfalls denkbar, zumindest im Nds. SOG (und soweit ersichtlich auch im neuen NGefAG) nicht vorhanden. Die repressive Abfrage von Vorratsdaten steht unter Richtervorbehalt, eine Eilkompetenz der Staatsanwaltschaft besteht auch bei Vorliegen von Gefahr im Verzug nicht. Voraussetzung für die Abfrage ist der Anfangsverdacht einer besonders schweren Straftat (die auch im Einzelfall schwer wiegen muss). Welche Straftaten in Betracht kommen ist im – ebenfalls in § 100g Abs. 2 StPO enthaltenen – Straftatenkatalog abschließend geregelt.
[infobox title=’Besonders schwere Straftaten im Sinne des Satzes 1 sind’]

aus dem Strafgesetzbuch:

a) Straftaten des Friedensverrats, des Hochverrats und der Gefährdung des demokratischen Rechtsstaates sowie des Landesverrats und der Gefährdung der äußeren Sicherheit nach den §§ 80, 81, 82, 89a, nach den §§ 94, 95 Absatz 3 und § 96 Absatz 1, jeweils auch in Verbindung mit § 97b, sowie nach den §§ 97a, 98 Absatz 1 Satz 2, § 99 Absatz 2 und den §§ 100, 100a Absatz 4,
b) besonders schwerer Fall des Landfriedensbruchs nach § 125a, Bildung krimineller Vereinigungen nach § 129 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 4 Halbsatz 2 und Bildung terroristischer Vereinigungen nach § 129a Absatz 1, 2, 4, 5 Satz 1 Alternative 1, jeweils auch in Verbindung mit § 129b Absatz 1,
c) Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung in den Fällen der §§ 176a, 176b, 177 Absatz 2 Satz 2 Nummer 2 und des § 179 Absatz 5 Nummer 2,
d) Verbreitung, Erwerb und Besitz kinder- und jugendpornographischer Schriften in den Fällen des § 184b Absatz 2, § 184c Absatz 2,
e) Mord und Totschlag nach den §§ 211 und 212,
f) Straftaten gegen die persönliche Freiheit in den Fällen der §§ 234, 234a Absatz 1, 2, §§ 239a, 239b und Menschenhandel zum Zweck der sexuellen Ausbeutung und zum Zweck der Ausbeutung der Arbeitskraft nach § 232 Absatz 3, 4 oder 5, § 233 Absatz 3, jeweils soweit es sich um Verbrechen handelt,
g) schwerer Bandendiebstahl nach § 244a Absatz 1, schwerer Raub nach § 250 Absatz 1 oder Absatz 2, Raub mit Todesfolge nach § 251, räuberische Erpressung nach § 255 und besonders schwerer Fall einer Erpressung nach § 253 unter den in § 253 Absatz 4 Satz 2 genannten Voraussetzungen, gewerbsmäßige Bandenhehlerei nach § 260a Absatz 1, besonders schwerer Fall der Geldwäsche und der Verschleierung unrechtmäßig erlangter Vermögenswerte nach § 261 unter den in § 261 Absatz 4 Satz 2 genannten Voraussetzungen,
h) gemeingefährliche Straftaten in den Fällen der §§ 306 bis 306c, 307 Absatz 1 bis 3, des § 308 Absatz 1 bis 3, des § 309 Absatz 1 bis 4, des § 310 Absatz 1, der §§ 313, 314, 315 Absatz 3, des § 315b Absatz 3 sowie der §§ 316a und 316c,

aus dem Aufenthaltsgesetz:

a) Einschleusen von Ausländern nach § 96 Absatz 2,
b) Einschleusen mit Todesfolge oder gewerbs- und bandenmäßiges Einschleusen nach § 97,

aus dem Außenwirtschaftsgesetz:

Straftaten nach § 17 Absatz 1 bis 3 und § 18 Absatz 7 und 8,

aus dem Betäubungsmittelgesetz:

a) besonders schwerer Fall einer Straftat nach § 29 Absatz 1 Satz 1 Nummer 1, 5, 6, 10, 11 oder 13, Absatz 3 unter der in § 29 Absatz 3 Satz 2 Nummer 1 genannten Voraussetzung,
b) eine Straftat nach den §§ 29a, 30 Absatz 1 Nummer 1, 2, 4, § 30a,

aus dem Grundstoffüberwachungsgesetz:

eine Straftat nach § 19 Absatz 1 unter den in § 19 Absatz 3 Satz 2 genannten Voraussetzungen,

aus dem Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen:

a) eine Straftat nach § 19 Absatz 2 oder § 20 Absatz 1, jeweils auch in Verbindung mit § 21,
b) besonders schwerer Fall einer Straftat nach § 22a Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2,

aus dem Völkerstrafgesetzbuch:

a) Völkermord nach § 6,
b) Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach § 7,
c) Kriegsverbrechen nach den §§ 8 bis 12,

aus dem Waffengesetz:

a) besonders schwerer Fall einer Straftat nach § 51 Absatz 1 in Verbindung mit Absatz 2,
b) besonders schwerer Fall einer Straftat nach § 52 Absatz 1 Nummer 1 in Verbindung mit Absatz 5.[/infobox]

 

Unschwer erkennbar ist, dass es sich weitgehend um besonders drastische Taten handelt. So genannte Computerstraftaten und der Komplex der Betrugsdelikte sind gar nicht enthalten. Diese Beschränkung schließt die tatsächliche Nutzbarkeit der VDS in vielen Fällen aus.

 

In der Praxis große Relevanz wird voraussichtlich die Möglichkeit der Auskunft über IP-Adressen erlangen. Nach § 100j Abs. 2 StPO neue Fassung ist bei der Abfrage der hinter einer IP-Adresse stehenden Nutzerinformationen nunmehr ein Rückgriff auf die Vorratsdaten möglich. Im Gegensatz zu § 100g Abs. 2 StPO unterliegt diese IP-Bestandsdatenauskunft keinerlei Anforderungen an die Schwere der Straftat. Auch ein Richtervorbehalt ist nicht vorgesehen. Die abgefragten Informationen müssen “nur” für die Erforschung des Sachverhalts oder die Ermittlung des Aufenthaltsorts eines Beschuldigten “erforderlich sein”.

 

Wie steht es um die Zukunft der VDS?

 

Gegen die Neuregelung der VDS sind bereits mehrere Verfassungsbeschwerden erhoben worden. Es wird kritisiert, dass der Gesetzgeber es (wieder) nicht vermocht habe, hinreichende Schutzvorkehrungen für die Bürger zu treffen. Die Regelungen seien vielfach “nachlässig und ungenau”. Substantiierte Begründungen für die Erforderlichkeit der VDS würden fehlen. Zudem wird die Entscheidung des EuGH so interpretiert, dass eine anlasslose Erfassung eines jeden Bürgers nicht zulässig sei. Berufsgruppen, die eines besonderen Vertrauensschutzes bedürfen (z.B. Anwälte, Ärzte), würden nicht hinreichend geschützt.

 

Die Verfassungsbeschwerden enthalten gewichtige Argumentationslinien. Das BVerfG wird die Neuregelung kritisch zu überprüfen haben. Es steht zu befürchten, dass die Regelungen wiederum der Nachbesserung bedürfen. Das ist dann allerdings nicht – wie es leider häufig geschieht – den Karlsruher Richtern zuzuschreiben, sondern dem Gesetzgeber.

 

 

Vorheriger Beitrag

Cold Cases

Nächster Beitrag

Erlkönige der besonderen Art