Die Bearbeitung von Cold-Case Delikten an der Polizeiakademie

Cold-Case-Delikte stehen ja hoch im Kurs, ein Blick in die Fernsehzeitschrift zeigt, dass es auf Privatsendern sogar ganze Serien zur besten Sendezeit gibt, die sich mit diesem Themenfeld befassen. Aber ist es überhaupt möglich, diese schwerwiegenden Straftaten durch Studierende bearbeiten zu lassen, also Berufsanfänger, wenn auch am Ende ihrer Studienzeit?

Seit drei Jahren bearbeiten Studierende an der Polizeiakademie Niedersachsen im Rahmen eines Wahlpflichtkurses Cold-Case-Delikte in Zusammenarbeit mit den zuständigen Fachkommissariaten und Staatsanwaltschaften. Mittlerweile wurden sieben vollendete und ein versuchtes Tötungsdelikt aus den Jahren 1991 bis 2014 analysiert. Zielrichtung des Artikels ist, gemachte Erfahrungen darzustellen sowie die Entwicklungsmöglichkeiten des Wahlpflichtkurses aufzuzeigen.

 

Die Idee des Kurses

Die Idee für den Kurs steht in Zusammenhang mit früheren Erfahrungen, da bereits seit Jahren dreitägige Trainings mit der Operativen Fallanalyse (OFA) des LKA und Studierenden stattfanden, um einen Einblick in Arbeit und Denkweise einer fallanalytischen Betrachtung anhand von Fällen zu vermitteln, die von der OFA bereits bearbeitet worden waren. Die von den Studierenden in diesem Zusammenhang erarbeiteten Ergebnisse waren auch im Hinblick auf die von der OFA dargestellten Lösungen als positiv zu betrachten und führten dann zum Aufbau eines eigenen Kurses, in dem die Studierenden noch nicht von der OFA analysierte Altmordfälle bearbeiten.

 

Ziele des Kurses

Die Ziele des Kurses sind die Rekonstruktion des Tatablaufs, einschließlich Erhebung des Opferbildes und Motivbewertung sowie die Durchführung eines Spurencontrollings mit der Zielrichtung, die Akten auf Schlüssigkeit zu prüfen und weiterführende ermittlungsunterstützende Maßnahmen zu erarbeiten. Dazu werden jeweils fallbezogen auch verschiedene Kompetenzen von Studierenden einbezogen, z.B. auch durch denselben Migrationshintergrund wie das damalige Opfer.

Die Ergebnisse werden in einer Präsentation und einem Analysebericht zusammengefasst und den sachbearbeitenden Dienststellen und der zuständigen Staatsanwaltschaft präsentiert.

Die Ermittlungsdienststellen können dann anschließend mit den neuen Erkenntnissen den Fall aufgreifen, den Blick schärfen und bislang präferierte Ermittlungsstränge kritisch reflektieren. Darüber hinaus erfolgt durch die Studierenden die Betrachtung aller Ermittlungsspuren im Spurencontrolling, also insgesamt eine Beschäftigung mit dem Sachverhalt aus verschiedenen Blickwinkeln heraus.

Die Arbeit der Studierenden ist dabei als Ergänzung zu den professionellen Analysen der OFA zu sehen bzw. zum eigenständigen Spurencontrolling der sachbearbeitenden Dienststellen. Sie sollen Impulse setzen für eine weitere Bearbeitung der Altmordfälle durch die Fachdienststellen.

 

Die bislang erzielten Ergebnisse der Jahre 2014 und 2015

 

Fall 1:

Ein damals 51-jähriges türkisches Opfer wurde 1996 in seiner Einzimmerwohnung in einem schon fortgeschrittenen Fäulnisstadium aufgefunden. Das gegen ihn gerichtete Tötungsdelikt mit multiplen Verletzungsmustern wurde im Rahmen der anschließend stattgefundenen Obduktion erkannt.

Einem türkischen Studierenden gelang es, ein im Zimmer des Opfers an der Wand von dem Täter hinterlassenen Schriftzug zu deuten. Dieses gelang nach der Tat selbst mit Hilfe von Dolmetschern nicht. Der Schriftzug konnte als türkische Drohung erkannt werden, die aber nicht mit türkischen, sondern lateinischen Schriftzeichen geschrieben worden war. Damit konnte der Kurs schlussfolgern, dass der Verfasser augenscheinlich der türkischen Sprache, aber nicht der türkischen Schrift mächtig war.

 

Fall 2:

1991 wurde ein unbekannter männlicher Leichnam neben einer Autobahnauffahrt mit multiplen Verletzungsmustern und Fesselungsspuren aufgefunden. Die Identität des Mannes ist bis heute nicht geklärt. Im Vorgang lassen sich Bezüge Richtung Osteuropa sowie in eine norddeutsche Großstadt finden.

Ermittlungsunterstützend war hier u.a. die Deutung eines Einstichs in das Fettgewebe im Oberschenkel des Opfers, der im Vorgang selbst keine weitere Interpretation erfuhr: eine Studierende als gelernte Krankenschwester interpretierte den Befund eindeutig als Einstich einer Thrombosespritze. Damit war ein kurz vor dem Tod des Mannes stattgefundener Krankenhausaufenthalt bzw. eine ärztliche Behandlung nicht ausgeschlossen und damit eine neue Ermittlungsrichtung in Bezug auf die noch ausstehende Identifizierung.

 

Fall 3:

Die Leiche einer osteuropäischen Frau wurde 1999 in der Mittagszeit an einer Bundesstraße in einem kleinen Waldstück nahe einem Parkplatz ermordet aufgefunden. Die Frau war nach den geführten Ermittlungen als Anhalterin in Deutschland unterwegs, vorwiegend mit LKW im süddeutschen Bereich. Im Bereich einer rund 60 km entfernten Autobahnraststätte wurde die Frau rund 8 Stunden vor ihrem Auffinden von Polizeibeamten nachweislich kontrolliert.

Hier gelang u.a. die Neubewertung einer DNA-Mischspur, die bislang eindeutig dem Täter zugeordnet wurde: die Spur konnte zwar vom Täter stammen kann, musste aber nicht zwingend. Dadurch wurden Spurenakten neu bewertet, in denen Personen bereits aufgrund dieser Tatsache als Täter ausgeschlossen worden waren.

 

Fall 4:

Eine 85-jährige Frau wurde 2014 nach einem Raubüberfall in ihrem Wohnhaus eingesperrt, als unbekannte Täter den Griff des Schlafzimmerfensters sowie den Türgriff an der Zimmertür entfernten. Die Frau konnte erst nach dreieinhalb Tagen gefunden und befreit werden. Sie verstarb vier Monate nach der Tat.

Hier war Hauptzielrichtung der Tatrekonstruktion und Opferbildanalyse die Klärung der Aspekte, die für und gegen eine Beziehungstat sprachen. Dabei konnten die Studierenden u.a. Hinweise auf eine neue Ermittlungsspur geben durch auf den Tatortfotos erkennbare und erst kürzlich ausgeführte Renovierungsarbeiten, die bislang in den Ermittlungen noch keine Rolle spielten.

 

Die erzielten Ergebnisse im Jahr 2016

Fälle 5 – 8:

Im Elbe-Weser-Dreieck kam es in den 80er Jahren zu einer Anzahl von Tötungsdelikten an jungen Frauen sowie Vermisstenfälle aus derselben Altersgruppe. Ziel der Analyse war es, für insgesamt vier dieser Tötungsdelikte neben einer jeweiligen Einzeldeliktsanalyse aufbauend eine vergleichende Fallanalyse der Taten vorzunehmen, also Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten sowie ein Spurencontrolling durchzuführen. 

Um die Besonderheiten der Vorgehensweise im Wahlpflichtkurs noch einmal genauer zu skizzieren, sollen die verschiedenen Stufen innerhalb der Bearbeitung an dieser Stelle detaillierter herausgestellt werden. Es ist zu unterscheiden einerseits zwischen der Ermittlungsunterstützung durch Rekonstruktion des Tatablaufs, Opferbilderhebung und Motivbewertung sowie andererseits dem Spurencontrolling der vorhandenen Ermittlungsspuren. Dieses sind grundsätzlich zwei unterschiedliche Dinge, die im Regelfall durch unterschiedliche Dienststellen bearbeitet werden.

Die Tatrekonstruktion ist die Zergliederung des Tatgeschehens in Vor- Haupt- und Nachtatphase mit den aufbauenden Fragestellungen, welche Handlungsabläufe im Tatgeschehen vom Täter oder vom Opfer gesetzt wurden. Diese Rekonstruktion führt im Idealfall dazu, dass die Tat besser verstanden werden kann und setzt eine intensive Auseinandersetzung mit dem Sachverhalt und eine Zergliederung der Tat in Handlungssequenzen voraus, die mit einer Hypothesenbildung über den jeweiligen Tatverlauf aufgrund objektivierbarer Fakten, z.B. den Tatbefundbericht bzw. den Obduktionsbericht erreicht wird.

Die Erhebung des Opferbildes anhand der vorhandenen Akten hat die Zielrichtung, sich einen Überblick über die Persönlichkeit des Opfers zu machen und die Wahrscheinlichkeiten zu bewerten, wie das Opfer auf den stattgefundenen Täterangriff reagiert hat und ob dieses Teile des Verletzungsbildes am Opfer erklären kann.

Das Spurencontrolling dagegen versucht, die Hauptakte sowie die Spurenakten eines Ermittlungsvorganges auf Schlüssigkeit und Vollständigkeit zu prüfen und insbesondere in der Spurenbewertung zu erreichen, ob eine Ermittlungsspur aus heutiger Sicht mit dem richtigen Ergebnis endete oder ob noch weitere Ermittlungen geführt werden müssen. Hier ist also eine deutliche Bewertung der Ermittlungsarbeit vorzunehmen.

Damit wird die Vorgehensweise im Wahlpflichtkurs 2016 deutlich: der erste Schritt der vergleichenden Fallanalyse ist die jeweilige Einzelfallanalyse aller vier Tötungsdelikte unabhängig voneinander, der zweite Schritt war das Spurencontrolling in jedem einzelnen Fall, also die Frage, ob jede Spurenakte jeder einzelnen Tat mit der richtigen Bewertung der Spur endete. Hier ist also jede Tat für sich selbst zu betrachten, da von Anfang an nicht ausgeschlossen werden kann, dass für die vier Tötungsdelikte auch vier Täter verantwortlich sind. Erst danach konnten Quervergleiche gezogen werden.

Hier konnte der Wahlpflichtkurs Gemeinsamkeiten und Unterschiede dieser Taten herausstellen und bewerten. In einer über 400 Folien umfassenden 7-stündigen Präsentation stellten die Studierenden ihre Ergebnisse vor rund 20 anwesenden Teilnehmern der StA und der beteiligten Polizeidienststellen vor.

 

Vorteile für alle Beteiligten

Insgesamt lassen sich eine Vielzahl von Vorteilen für die Dienststellen sowie die Studierenden herausarbeiten. Ein Vorteil für die Dienststellen ist der ganzheitliche Ansatz. Alle dargestellten Aufgaben werden aus einer Hand durch den Wahlpflichtkurs geleistet und innerhalb von vier Wochen mit einem zeitlichen Aufwand der Studierenden und betreuenden Dozenten von rund 4.300 Stunden werden Tatrekonstruktion, Opferbilderhebung sowie das Spurencontrolling durchgeführt und abgeschlossen.

Als Vorteil für die Studierenden lässt sich erwähnen, dass diese lernen, komplexe Inhalte aus den Ermittlungsakten gedanklich zu strukturieren und auch umfassende Spurenakten mit einer Vielzahl von Informationen zu bewerten. Diese Verknüpfung von Theorie und Praxis ist handlungsleitend für das gesamte Bachelorstudium.

 

Blick in die Zukunft

Eine weitere Zielrichtung des Wahlpflichtkurses ist auch, Erfahrungen im Umgang mit unterschiedlichen Fallstrukturen zu gewinnen. Es macht nämlich einen großen Unterschied aus, ob ein Leichnam am Ort der Tat gefunden wird bzw. ob der Tatort beim Fund eines Leichnams überhaupt bekannt wird. Ab dem kommenden Jahr werden auch Fälle von langzeitvermissten Personen in die Bearbeitung einbezogen, um auch hier Erfahrungen zu sammeln. Damit wagt sich der Wahlpflichtkurs in einen Bereich vor, der für die Analyse einer Tat noch schwieriger ist, weil es in diesen Fällen im Regelfall weder Tatort noch Fundort gibt, unter Umständen ist nicht einmal der Verschwindeort der vermissten Person genau bekannt. Hier gilt es, in den nächsten Jahren weitere Erfahrungen zu sammeln und den Wahlpflichtkurs als Serviceleistung für die niedersächsische Polizei als Teil eines Gesamtkonzepts fest zu etablieren.

 

Die Autoren:

 

Karsten Bettels ist seit 2009 Dozent an der Polizeiakademie für Kriminalwissenschaften. Dort hält er am Studienort Nienburg Vorlesungen in Kriminalistik und leitet Fortbildungsseminare zu „Sonder- und Mordkommissionen“.

 

Dr. Alexandra Schedel-Stupperich ist seit rund drei Jahren Professorin an der

Polizeiakademie im Studiengebiet Kriminalwissenschaften. Dort hält sie – an

allen Studienorten – Vorlesungen zur Kriminaltechnik.

 

Beide begleiten den Wahlpflichtkurs am Studienort Nienburg, in dessen Rahmen eine Auswahl an Altfällen einer erneuten Ermittlungsbewertung unterzogen werden.

 

 

Bildmaterial:

Präsentation der Ergebnisse des Wahlpflichtkurses im September 2016 vor der zuständigen Dienststelle und Staatsanwaltschaft in den Räumlichkeiten der PI Nienburg-Schaumburg

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