Welche Assoziationen verknüpfen sich mit Chicago? Al Capone, Valentins Massaker, Gangs und Schießereien. Wer denkt, dies alles ist nur noch in den berühmten Crime Tours lebendig, die dem interessierten Touristen stündlich in schwarzen Bussen mit gelbem ‚Crime Scene Band‘  geboten werden, der irrt gewaltig. ,Die ‚Windy City‘ zählt mit mehr als 750 Tötungsdelikten und  rund 3000 Verletzten pro Jahr auch heute noch  zu den gefährlichsten Städten der USA.  Die Lektüre der Chicago Tribune am Montag Morgen macht die Gewaltexzesse besonders deutlich. Ausführliche Berichte und Reportagen über die Shootings vom Wochenende sucht man vergebens. Die Ereignisse werden üblicherweise auf ein kompaktes Zeilenmaß zusammengestutzt.  „Manche Viertel sind verloren“, berichtet mir Commander Mark Buslick vom CPD Area North District 019, während sein Handy schon wieder klingelt. Am kommenden Wochenende ist der bekannt Chicago Marathon. Die strategische Planung rund um die Sicherheit von Teilnehmern und Besuchern laufen auf Hochtouren.  Für den 19. District mit seinen 300 000 Einwohnern stehen dem Commander  rund 300 Patrol Officers zur Verfügung. Gearbeitet wird im 3-Schicht System. Da heißt es mit dem Personal jonglieren, denn natürlich ist auch mal jemand krank oder hat Urlaub. Buslick stellt mich Ian Atkinson vor, Commander of Homicides and Major Crimes, schüttelt Hände, nimmt sich Zeit für ein Foto und schon ist er durch die Tür verschwunden.

Ich finde mich gemeinsam mit Prof Dr. Edna Erez von der State University of Illinois at Chicago (UIC) in einem Großraumbüro wieder, wo rund 80 Detectives an ihren Schreibtischen sitzen und in Computerbildschirme starren. Ständig klingelt irgendwo ein Telefon oder der Funk krächzt. Weitere Hände werden geschüttelt und eine Tasse mit schwarzem Department Kaffee wird vor mich auf dem Tisch gestellt. Wir sind hier um über Cold Cases zu sprechen. In Chicago hat man mehr als genug davon.  Über 9500 ungeklärte Tötungsdelikte gibt es in der ganzen City, rund  1/3 davon lagern in den hellbraunen Aktenschränken, die mir die beiden Cold Case Detectives zeigen. Sie gehen zurück bis in die 60er Jahre. Al Capone hatte also definitiv nichts mit ihnen zu tun. Doch wie um seiner Tradition gerecht zu werden,  handelt es sich in rund 90 Prozent um Gang Shootings. Alleine am Tag vor meinem Besuch sind 7 Tote nach einer Schießerei dazu gekommen.  Aufgeklärt werden sie wahrschlich nie.  „Gangbangers kriegt man selten dran“, kommentiert der Detective. Trotzdem versuchen John Campell und sein Partner Jon Utz jede Woche wenigstens ein paar Stunden mit den Altfällen zu verbringen und das obwohl jeder von ihnen aktuell rund 20 Tötungsdelikte parallel zu bearbeiten hat.  Sergeant Utz deutet auf einen Ordner vor sich und meint: „Den würde ich dir zu gerne für deine Studierenden im Cold Case Wahlpflichtfach mitgeben.“ Ich blättere die Seiten durch. Ein toter Drogendealer, erschossen, nur wenige Meter von seiner Wohnung entfernt. Ich nicke und bin nicht sonderlich optimistisch.

 

Eingeladen wurde ich in das Department, weil Mark Buslick zwei Tage vorher an der UIC über die Arbeit unserer Studierenden an Altfällen berichtet habe. Im Anschluss entstand die Idee, das Projekt auch mal den Homicide Detectivs vom CPD vorzustellen und genau das mache ich jetzt. Die Detectives konnten ihren Neid auf ihre deutschen Kollegen kaum verbergen. „A terrific project“, meinten sie und erzählen im selben Atemzug, dass die Ausbildung der hiesigen Patrol Officers lediglich 6 Monate dauerte.  Danach heißt es ‚learning by doing‘ und das in einer Stadt mit hoch aufgerüsteten professionellen Straftätern. Wieder einmal wird mir klar, wie gefährlich Polizeiarbeit sein kann. Ich kann das Engagement der Homicide Detectives nur bewundern und bin erstaunt wie offen sie über ihre Arbeit und die damit verbundenen Belastungen sprechen.

Den Kopf voller Eindrücke kehren meine Gastgeberin und ich zurück an die UIC und planen den nächsten Tag. Ein Besuch in einem der Gerichte von Chicago ist angesagt. Da sich das Department of Criminology, Law and Justice, das mich zu sich eingeladen hat,  im Schwerpunkt mit häuslicher Gewalt beschäftigt, werden wir zu einem darauf spezialisierten Gericht gehen. Am nächsten Morgen sehe ich mich einem dreistöckigen Gebäude gegenüber, in dem ausschließlich solche Delikte verhandelt werden. Zivilkammer im 1.,  Haftrichter im 2., Strafkammern im 3. Stock. Nach der Sitzung bietet sich uns die Möglichkeit mit einem der Richter der Strafkammer zu sprechen. Rund 20 Sitzungen setzt  er pro Tag an, allerdings erscheinen die Beteiligten nicht immer. Andere Verfahren werden eingestellt, weil es sich die Frauen (es sind fast immer Ehefrauen, Lebenspartnerinnen oder Mütter) anders überlegt haben und keine Aussage mehr machen wollen. Schon ist die Pause vorbei. Der Richter hastet hinaus in den Gerichtssaal.  Als wir den Saal verlassen, kommt ein Verteidiger auf uns zu und fragt, ob wir seine Hilfe benötigen. Wir lehnen danken ab. Auch das ist Amerika.

Unser letzter Besuch gilt den Rape Victim Advocates. Diese Non-profit Organisation ist dem Weißen Ring vergleichbar, nur dass sie sich ausschließlich auf Opfer von Vergewaltigungen konzentriert. Die ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen sind in den Krankenhäusern vor Ort oder versehen eine Art Bereitschaftsdienst, sodass sie von den Notärzten angerufen werden können. Die wenigen hauptamtlichen Mitarbeiter haben ein Büro im Police Department und arbeiten eng mit den Rape Detectives zusammen. Sie helfen den Opfern mit den zahlreichen Formularen, unterstützen sie durch hauseigene  Anwälte und begleiten die Opfer zu den Prozessen. „Unsere Aufgabe ist es aber nicht, Fragen zu stellen“, erklärt eine der Mitarbeiterinnen und ehemalige Studentin der UIC. „Wir wollen den Opfern im Dschungel des Ermittlungs- und Strafverfahrens zur Seite stehen, keine Interviews führen.“  Wir treffen sie noch einmal im Gericht wieder, als sie ein Opfer zu einem Prozess begleitet und mir wird klar, wie wichtig ihre Arbeit ist. Vielleicht sollte ich mich auch stärker engagieren, wenn ich wieder zuhause bin. Im Weißen Ring vielleicht?

Dr. Alexandra Stupperich, Professorin an der Polizeiakademie Niedersachsen

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